Musik

Seine Musik brachte Kinderaugen zum Leuchten - Nachlass des Komponisten Gunther Erdmann jetzt in der Musikabteilung der Staatsbibliothek

Vielleicht werden sich einige, die ihre Kindheit in Ostdeutschland verbracht hatten, an Lieder wie etwa „ein kleiner frecher Spatz vom Alexanderplatz“ von Gunther Erdmann (1939-1996) erinnern. Der einstmals gefeierte Komponist mit dem dichten dunklen Haar und dem markanten Rauschebart hat fast sein ganzes Leben für die Kindheit und Jugend komponiert. Der nach schwerer Krankheit plötzlich verstorbenen Doris Winkler vom Chorverband Berlin ist es zu verdanken, dass der Nachlass von Gunther Erdmann, gerettet werden konnte.

Es handelt sich um ein ganz eigenes Stück Musikgeschichte der DDR, das nun in der Musikabteilung für die Nachwelt zugänglich geworden ist: Das Leben und Schaffen eines komponierenden, einfühlsamen Musikpädagogen. Der Bestand wurde komplett erschlossen und harrt noch einer eingehenden musikwissenschaftlichen Erforschung; wie insgesamt der Bereich der Musikpraxis, Musikpädagogik aber auch des Musiklebens der ehemaligen DDR überhaupt leider insgesamt bislang wenig Interesse gefunden hat. Gleich beim Öffnen der sorgsam gelagerten archivgrauen Nachlasskästen beeindruckt besonders der reichhaltige und kunterbunte kompositorische Teil des Erdmann-Archivs, das neben zahlreichen persönlichen Dokumenten auch Fotos und Tonträger enthält: Sein Œuvre umfasst Instrumental- und Filmmusik, Sololieder, Revuen und sogar eine Kinderoper.

Es war sein Hauptanliegen, Chormusik v.a. für junge Leute zu schreiben. Dabei sollte der 1939 im Thüringischen Oberdorla bei Mühlhausen geborene Erdmann zunächst die Schuhwerkstatt des Vaters übernehmen, übte aber viel lieber Cello und Klavier in der Volksmusikschule und zog schon bald als Korrepetitor beim „Republik-Ensemble der Deutschen Volkspolizei“ durch die DDR, wie die im Nachlass erhaltenen Berichtshefte und Lehrlingszeugnisse aus dem Weißenfelser Schuhkombinat „Banner des Friedens“ belegen. Wie so oft in Nachlässen ergibt erst das Zusammenspiel von musikalischen und „unmusikalischen“, quasi fachfremden Zeugnissen der Vergangenheit erst ein natürliches Bild eines komponierenden Menschen. 1966, nach dem Studium an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“, übernahm er als musikalischer Leiter fast 20 Jahre erfolgreich zusammen mit der Choreographin und Tänzerin Anni Sauer – einer in der Sowjetunion von Stalin Verfolgten das Kinder- und Jugendensemble „Musik und Bewegung“ am „Haus der Jungen Talente“ in Berlin. Über diese Arbeit, die er stets mit seinem kompositorischen Grundsatz „so einfach wie möglich, so kompliziert wie nötig“ zu erfüllen suchte, schrieb Erdmann im Januar 1985: „Kinder haben eine unglaubliche Phantasie. Sie sind nicht nur aktive Zuhörer, sie können gar nicht passiv sein und urteilen durch ihre Anteilnahme. Jedes Kind ist musikalisch. Es genügt nicht nur, Kompositionen für Kinder zu schreiben, man muß sich selbst mit ihnen beschäftigen, muß ihre Wünsche, Träume, Freude und Traurigkeit genau kennen. Das ist die beste Basis zur Schaffung neuer Musik für Kinder.“ Dabei versuchte Erdmann, den Bewegungsdrang und die Spielfreudigkeit von Kindern oder den „ursprünglichen Spieltrieb“, wie Erdmann es nannte, geschickt mit der Artikulation von Sprache, Klängen und der Klangerzeugung eines Instrumentes zu verquicken, den Ideen des Kindes Raum zu lassen, ohne sie dabei durch falschen Aktionismus zu ersticken.

Einige Werke aus seinem Nachlass sind heute zwar als Ergebnis einer ideologischen Vereinnahmung durch die SED-Machthaber durchaus kritisch zu sehen. Andere Werke wirken hingegen erstaunlich zeitlos, entspringen stets der Erlebniswelt des (gänzlich unpolitischen) Kindes. Abzählreime finden sich neben Kalauern, Zungenbrechern oder Kurzgeschichten und Gedichten von Eva Strittmatter, Sarah Kirsch, James Krüss und anderen bekannten Lyrikerinnen und Lyrikern.
Ebenso bediente Erdmann auch das traditionelle Kinderlied aus Deutschland (neben dem Liedgut aus den sogenannten „sozialistischen Brüderländern“) im gemäßigt modernen Tongewand. Anfang der 1980er Jahre kam sein Interesse für jiddische Folklore hinzu. Neben der Pentatonik reizte ihn, der selbst jüdische Vorfahren hatte, die eigenartige Melange aus heiterer Lebensfreude und tiefem Schmerz, die in seinem Zyklus „Tumbalaleika“ oder in der Motette „Ghetto“ erfahrbar wird.

Das Ende der DDR bedeutete eine schmerzliche Zäsur für Gunther Erdmann. Er sah sich plötzlich seiner beruflichen Grundlage − ja Existenz − beraubt. 1990 komponierte er sein letztes Chorwerk „Die Welt ist ein Käfig voller Narren“. Nach dem Mauerfall wurde es immer ruhiger um den Komponisten; er vereinsamte sogar zunehmend − ein Schicksal, das er mit vielen Komponisten der untergegangenen DDR teilte.