Musik

Die Nachlässe von Franziska Martienßen-Lohmann (1887-1971) und Paul Lohmann (1894-1981)

Nachdem die Arbeit an der Biographie der deutschen Gesangspädagogin Franziska Martienßen-Lohmann zu ihrem 100. Geburtstag abgeschlossen war, schenkten die Autorinnen Sigrid Gloede und Ruth Grünhagen ihr umfangreiches Unterlagenmaterial der Staatsbibliothek zu Berlin. Diese Sammlung enthält sowohl persönliche Briefe und Fotos aus Kindheit und Jugend Martienßen-Lohmanns, als auch Dokumente aus ihrem langjährigen Wirken als einer Hauptvertreterin der deutschen Gesangspädagogik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Zeugnisse, Urkunden, Zeitungsausschnitte, Unterrichtsunterlagen, ihre Gedichtsammlungen, ihren Briefwechsel mit Gesangsschülern und Kollegen sowie eine Auswahl ihrer veröffentlichten gesangspädagogischen Aufsätze, Rezensionen und Fachbücher.

Eine wesentliche Ergänzung erfuhr der Nachlass Martienßen-Lohmanns durch die im April 1996 erfolgte Übergabe des Nachlasses von Paul Lohmann, dem zweiten Ehemann der Pädagogin.

Dieser Nachlass wurde der Staatsbibliothek von Lohmanns zweiter Ehefrau Hildegund Lohmann-Becker geschenkt. Beide Nachlässe ergänzen sich, da der Nachlass Paul Lohmanns außer Dokumenten, die seine eigene Biographie als Sänger, Gesangspädagoge und langjähriger Mitarbeiter Martienßen-Lohmanns betreffen, außerdem weitere wertvolle Dokumente aus dem Besitz Martienßen-Lohmanns selbst enthält.

Martienßen-Lohmann und Lohmann fußen durch ihre Lehrer Messchaert und Scheidemantel zunächst ganz auf der Tradition des 19. Jahrhunderts, entwickeln diese jedoch weiter und bringen sie mit der Reform der allgemeinen Pädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Einklang. Die Verwirklichung eines Klangideals, das in der Synthese zwischen italienischem Belcanto-Ideal und deutscher Sprache besteht, verbinden beide Pädagogen mit einem wissenschaftlichen und gesangsforscherischen Anspruch. Trotz ihres Einsatzes für eine deutsche Gesangspädagogik gelingt es dem Ehepaar Martienßen-Lohmann, den nationalen Aspekt und damit eine politische Vereinnahmung in der Zeit des Nationalsozialismus zu umgehen. Dabei berufen sich beide auf ein gesangspädagogisches Konzept mit allgemeingültigem Anspruch, das den ganzen Menschen als Instrument versteht. Auf das Zusammenwirken von physischen und psychischen Voraussetzungen, die wiederum gedanklich erfasst werden, verwenden sie besondere Aufmerksamkeit. Mit ihrem Ansatz legen sie die Voraussetzungen für die heutige moderne Gesangspädagogik, einer „Methodik vom Schüler aus“, die auf der Basis naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und unter Berücksichtigung nationaler Eigenheiten im Kunstgesang auf einen internationalen Konsens hinstrebt.

Franziska Martienßen-Lohmann, 1887 in Bromberg in einer bürgerlichen Familie geboren, hatte sich mit Unterstützung des Klavierpädagogen Carl Adolf Martienßen (1881-1955), ihres späteren ersten Ehemannes, zunächst auf ein Klavierstudium bei Robert Teichmüller in Leipzig vorbereitet. Nach dessen Abschluss ließ sie des Weiteren ein Gesangsstudium bei dem holländischen Bariton Johannes Messchaert in Berlin folgen. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, die Geburt ihrer Tochter Sigrid und ihr ausgesprochenes Interesse für ein Erkennen und Verstehen des Gesangs ließen sie neben der künstlerischen frühzeitig die gesangspädagogische Tätigkeit suchen. Durch die spätere Begegnung mit ihrem zweiten Mann Paul Lohmann wurde die eingeschlagene Richtung eindeutig verstärkt. Beide begründeten 1928 eine 40 Jahre währende Tradition von Meisterkursen für Sänger und Gesangspädagogen. Und beide ergänzten sich beruflich, indem Franziska Martienßen-Lohmann mit ihren Veröffentlichungen den Schwerpunkt auf die wissenschaftliche, Paul Lohmann durch seine Konzertpraxis den Schwerpunkt auf die künstlerische Seite setzte. In ihrer Begeisterung für das Pädagogische trafen sich beide.

Nach einer ersten Professur für Gesang in München von 1927 bis 1930 unterrichtete Martienßen-Lohmann an der Kirchenmusikschule in Berlin und von 1933 bis 1945 als „gleichgestellte Mitarbeiterin“ Lohmanns in dessen Vertrag als Professor an der Staatlich Akademischen Hochschule für Musik. Bedingt durch das Kriegsende verließen beide Pädagogen Berlin. Nach einer kurzen Zwischenstation an der Musikhochschule in Weimar wirkte Martienßen-Lohmann von 1949 bis 1969 am Robert-Schumann-Konservatorium in Düsseldorf als Professorin für Gesang. Lohmann gelangte über die Musikhochschule in Erfurt nach Frankfurt, wo er von 1949 bis 1978 ebenfalls eine Professur für Gesang innehatte. Franziska Martienßen-Lohmann verstarb 1971 in Düsseldorf, Paul Lohmann 1981 in Wiesbaden.
Aus dem großen Schülerkreis beider Pädagogen gingen zahlreiche Gesangslehrer hervor, die ihrerseits nach den Arbeitsprinzipien von Martienßen-Lohmann und Lohmann arbeiten. Die positive Resonanz, die die Veröffentlichungen Martienßen-Lohmann seit ihrem Erscheinen gefunden haben, reicht mit unverminderter Akzeptanz bis in die zeitgenössische Fachliteratur der Gegenwart (so u.a. bei Seidner, Fischer, Miller, Pezenburg). Dies zeigt einmal mehr, dass Martienßen-Lohmann ihren früh formulierten Vorsatz, zu einer modernen Gesangspädagogik und Gesangswissenschaft beitragen zu wollen, langfristig verwirklichen konnte.

Mit ihrem Ansatz, gesangspädagogisches Erfahrungswissen und naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse miteinander zu verbinden - und damit Klangorientierung und Funktionsorientierung in der Stimmschulung in einen lebendigen Dialog zu bringen - hat sie die zentrale Fragestellung der gegenwärtigen Gesangspädagogik vorweggenommen. Dies unterstreicht die Aktualität ihrer theoretischen Schriften, die in der Systematik ihrer praktischen Stimmbildungsarbeit ein wirksames Gegengewicht fand. Synthese, Ausgleich, Balance sind in Theorie und Praxis zentrale Begriffe der Gesangsauffassung Martienßen-Lohmanns, mit denen sie die Bedeutung der klassischen Gesangsausbildung als eines Schulungsweges erfasst, der über das Handwerklich-Technische hinaus auf das Künstlerische und die Bildung der gesamten Persönlichkeit ausgerichtet ist.

Barbara Hoos de Jokisch

  • Johannes Messchaert. Ein Beitrag zum Verständnis der echten Gesangskunst, Leipzig-Berlin 1914. 2. Auflage Die echte Gesangskunst, dargestellt am Beispiel Johannes Messchaerts, 1920, 3. Auflage 1923, heute vergriffen.
  • Das bewußte Singen. Grundlegung des Gesangstudiums, Leipzig 1923, 1926, 1951, Frankfurt 1993.
  • Stimme und Gestaltung. Die Grundprobleme des Liedgesangs, Leipzig 1927, Frankfurt 1993.
  • Ausbildung der Gesangsstimme, Buchform des Artikels Ausbildung der menschlichen Stimme 1937, Potsdam 1949, Wiesbaden 1957.
  • Berufung und Bewährung des Opernsängers, Mainz 1943, 2. Auflage Der Opernsänger – Berufung und Bewährung, Mainz 1970.
  • Der wissende Sänger, Gesangslexikon in Skizzen, Zürich/Freiburg 1956, 2., verbesserte und geänderte Auflage 1963, weitere Auflagen 1981,1988. Mainz: 2010
  • Die sängerische Einstellung, Leipzig 1929.
  • Stimmfehler - Stimmberatung, Mainz 1938.  
  • Fischer, Peter-Michael: Die Stimme des Sängers, Stuttgart 1993.
  • Fischer-Dieskau, Dietrich: Töne sprechen, Worte klingen, Stuttgart 1985.
  • Gloede, Sigrid/ Grünhagen, Ruth: Franziska Martienßen-Lohmann - ein Leben für die Sänger, Zürich und Freiburg 1987.
  • Hoos de Jokisch, Barbara: Das Pädagogische als schöpferisches Tun - Gesangspädagogik im Spannungsfeld von Kunst, Pädagogik und Wissenschaft. Franziska Martienßen-Lohmann zum 120. Geburtstag. In: Üben & Musizieren 5/2007, Mainz 2007.
  • Hoos de Jokisch, Barbara: Franziska Martienßen-Lohmann und Paul Lohmann - auf der Suche nach neuen gesangspädagogischen Unterrichtsformen, Vox humana 2/2007.
  • Hoos de Jokisch, Barbara: Die geistige Klangvorstellung. Franziska Martienßen-Lohmann, Gesangstheorie und Gesangspädagogik, Wiesbaden 2015.
  • Miller, Richard: English, French, German and Italian Techniques of Singing, Metuchen, N.J. 1977.
  • Pezenburg, Michael: Stimmbildung, Augsburg 2007.
  • Seidner, Wolfram / Wendler, Jürgen: Die Sängerstimme, Berlin 1997.