Stolpersteine Unter den Linden 8

NEUN GEDENKTAFELN AUS MESSING liegen, eingelassen im Gehweg Unter den Linden, vor der Staatsbibliothek zu Berlin. Diese ,Stolpersteine‘ tragen die Namen von neun ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die zur Zeit des Nationalsozialismus systematisch entrechtet und verfolgt wurden.
„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, lautet ein Sprichwort aus dem Talmud, das auch Leitgedanke des von Gunter Demnig initiierten europaweiten Erinnerungsprojekts ist. Vor der Staatsbibliothek erinnern die Stolpersteine an neun individuelle Schicksale wie auch an die zahlreichen weiteren Opfer der NS-Zeit. In Personalakten der Bibliothek, in Datenbanken und Archiven finden sich Spuren der Lebensgeschichten, deren Rekonstruktion auch an der Staatsbibliothek andauert.

EMMY FRIEDLAENDER wurde am 1. November 1880 in Berlin als Tochter des Kaufmanns Bernhard Friedlaender und seiner Frau Hedwig, geborene Wolff, geboren. Sie absolvierte 1909 die Bibliothekarinnenschule im Abgeordnetenhaus zu Berlin und legte 1914 die Diplomprüfung für den mittleren Bibliotheksdienst in Preußen ab. Sie erlernte Stenographie und Maschineschreiben, arbeitete in Buchhandlungen und Antiquariaten und ordnete und katalogisierte mehrere Privatbibliotheken. Zwischen 1912 und 1923 war sie in verschiedenen städtischen und wissenschaftlichen Bibliotheken in Berlin tätig und richtete die Bibliothek des Jüdischen Mädchenheims in der Rosenthaler Straße ein.
Während des Ersten Weltkriegs leistete sie Kriegsfürsorgedienst in Brüssel, engagierte sich in der Bekämpfung von Tuberkulose und legte eine Prüfung in der Kinderkrankenpflege ab. Zurück in Berlin, leitete sie 1924 das Fürsorgeamt der Ärztekammer, pflegte ihre schwer erkrankte Mutter und war ab 1926 als examinierte Wohlfahrtspflegerin tätig.
In den Dienst der Preußischen Staatsbibliothek trat sie 1929 ein: zunächst in der Einbandstelle, später in der Leihstelle der Benutzungsabteilung. Zum 31. Oktober 1933 wurde die jüdische Deutsche Emmy Friedlaender entlassen. Über ihren Lebensweg in den darauffolgenden Jahren ist heute nichts mehr bekannt. Am 28. Oktober 1944 deportiert, wurde Emmy Friedlaender noch im selben Jahr in Auschwitz ermordet.

ERNST DANIEL GOLDSCHMIDT – Daniel war sein Rufname – wurde am 9. Dezember 1895 im oberschlesischen Königshütte (heute: Chorzów) geboren, wo sein Vater Salomon Goldschmidt als Rabbiner arbeitete. An seine Teilnahme im Ersten Weltkrieg schloss ein Studium der Klassischen und der Semitischen Philologie in Breslau und Berlin an, das er 1925 mit Staatsexamen und einer Promotion über Studia Aeschinea abschloss.
An der Preußischen Staatsbibliothek absolvierte Daniel Goldschmidt ab 1926 die Ausbildung für den wissenschaftlichen Bibliotheksdienst; seit 1928 arbeitete er dort am Gesamtkatalog der Wiegendrucke, forschte und publizierte zum Beispiel zu hebräischen Inkunabeln. Mit zahlreichen wissenschaftlichen Beiträgen unterstützte er die Erforschung von Wiegendrucken in diesem bis heute an der Staatsbibliothek angesiedelten Projekt.
Die ,Nürnberger Gesetze‘ bewirkten zum Jahresende 1935 schließlich, dass Ernst Daniel Goldschmidt vom Dienst suspendiert und zwangspensioniert wurde. Im darauffolgenden Jahr emigrierte er mit seiner Familie nach Palästina, wo er bis zur Pensionierung im Jahr 1962 an der Nationalbibliothek in Jerusalem arbeitete. Im selben Jahr kam der ausgewiesene Experte erneut mit dem Gesamtkatalog der Wiegendrucke der Deutschen Staatsbibliothek – nun Berlin/Ost – in Kontakt und erklärte seine Bereitschaft, wieder beratend mitzuwirken. Daniel Goldschmidt starb 1972 in Jerusalem.

Als Sohn von Benjamin Carl Gottschalk und Rosa Kahn wurde WALTER GOTTSCHALK am 29. Januar 1891 in Aachen geboren. In Würzburg und Berlin studierte er Orientalistik, Philosophie, Geschichte und Kunstgeschichte; in Berlin promovierte er 1914 zum Thema Das Gelübde nach älterer arabischer Auffassung.
Anschließend an seine Kriegsteilnahme in der Türkei, in Syrien und Palästina war er seit 1919 fast ununterbrochen für die Preußische Staatsbibliothek tätig. Im Jahr 1929 veröffentlichte er dort den umfangreichen Katalog der Handbibliothek der Orientalischen Abteilung. 1935 wurde Walter Gottschalk aufgrund der ,Nürnberger Gesetze‘ aus dem Staatsdienst entlassen.
Seine Ehefrau Wanda wandte sich 1938 hilfesuchend an Albert Einstein mit der Bitte, Gottschalk zu einer Anstellung an einer Universitätsbibliothek in den USA oder in Palästina zu verhelfen. Die Eheleute Gottschalk emigrierten im Februar 1939 zunächst in die Niederlande und nach Belgien, 1941 dann in die Türkei, wo Walter Gottschalk an der Universität Istanbul mit dem Aufbau der Universitätsbibliotheken beauftragt wurde und 1949 eine Professur für Bibliothekswissenschaft erhielt. Nach seiner Emeritierung im Jahr 1954 ließ er sich in Frankfurt am Main nieder, wo er 1974 starb. Zwei seiner Geschwister wurden Opfer des Holocaust.

Als Sohn des Justizrats Dr. Paul Honigmann wurde ERNST REINHARD WOLFGANG HONIGMANN am 8. August 1892 in Breslau geboren. In Breslau und Freiburg studierte er von 1911 bis 1917 Geschichte, Geographie und orientalische Sprachen; von 1914 bis 1916 nahm er am Ersten Weltkrieg teil.
Seit Oktober 1917 unterrichtete Honigmann an Gymnasien in Breslau, 1920 promovierte er ebendort über die Historische Topographie von Nordsyrien im Altertum. Im gleichen Jahr absolvierte er auch die Ausbildung zum wissenschaftlichen Bibliothekar und verbrachte an der Universitätsbibliothek Breslau das erste Jahrzehnt seiner beruflichen Laufbahn, bevor er 1931 an die Preußische Staatsbibliothek nach Berlin wechselte. 1933 wurde der jüdische Deutsche Ernst Honigmann entlassen. Er emigrierte nach Belgien, wo er eine wissenschaftliche Anstellung am Institut für slawische und orientalische Philologie und Geschichte der Freien Universität Brüssel erhielt.
Nach dem deutschen Überfall auf Belgien wurde Honigmann am 10. Mai 1940 verhaftet und nach Südfrankreich deportiert. Von hier wurde er erneut zur Emigration gezwungen, diesmal in die Vereinigten Staaten. 1946 kehrte er an die Universität Brüssel zurück und wurde im selben Jahr Ehrenmitglied der Königlichen Akademie von Belgien. 1953 wurde er schließlich zum Professor ernannt. Der bedeutende Byzantinist Ernst Honigmann schrieb zahlreiche Bücher und Artikel über den christlichen Orient; er starb 1954 in Brüssel.

ROBERT LACHMANN wurde am 28. November 1892 als Sohn des Gymnasialprofessors Georg Lachmann und seiner aus England stammenden Frau Johanna Händler in Berlin geboren. Nach dem Abitur studierte Lachmann in Berlin und London Englisch, Französisch und Arabisch.
Während des Ersten Weltkriegs war er ab 1916 Dolmetscher im Kriegsgefangenenlager Wünsdorf in Brandenburg, in dem er zum ersten Mal in Kontakt mit Musik aus Indien und Nordafrika kam. Lachmann versuchte sich an der Niederschrift der im Lager gesungenen Gesänge und studierte nach dem Krieg Vergleichende Musikwissenschaft. 1922 wurde er mit einer Arbeit über Die Musik in den tunesischen Städten, für die er sich längere Zeit in Tunis aufgehalten hatte, promoviert. Weitere Forschungsreisen führten ihn in den 1920er Jahren zum Beispiel nach Tripolis und Djerba, wo er mündliche Musiktraditionen aufnahm. 1929 veröffentlichte er das Überblickswerk Musik des Orients.
Von 1927 bis 1933 arbeitete Lachmann als Musikbibliothekar an der Preußischen Staatsbibliothek. Obwohl Robert Lachmann 1929 seinen Austritt aus der jüdischen Gemeinde erklärt hatte, wurde er als sogenannter ,Beamter nicht arischer Abstammung‘ zum 1. Januar 1934 auf Grundlage des ,Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‘ aus dem Dienst der Staatsbibliothek entlassen.
Nach 14-monatigen Verhandlungen mit der Hebräischen Universität Jerusalem emigrierte Lachmann im April 1935 nach Palästina und baute an der Universität ein Archiv für Orientalische Musik auf. Er gilt als Begründer der modernen Musikethnologie in Israel. Nach längerer Krankheit verstarb Robert Lachmann am 8. Mai 1939 in Jerusalem.

ANNELISE MODRZE wurde am 2. Dezember 1901 im oberschlesischen Kattowitz als Tochter des Reichsbahndirektors Friedrich Modrze und seiner Frau Elfriede, geborene Fraenkel, geboren.
Die Eltern waren noch vor ihrer Geburt zum evangelischen Bekenntnis konvertiert. Nach dem Abitur studierte Annelise Modrze ab 1921 zunächst in Heidelberg, dann in Breslau Philosophie, Germanistik, Geschichte, Klassische Philologie und Archäologie. 1930 promovierte sie zum Thema Zum Problem der Schrift. Ein Beitrag zur Theorie der Entzifferung und legte das Staatsexamen ab. Anschließend war sie als Oberstufen-Lehrerin an der Städtischen Frauenberufsschule in Breslau tätig, wo sie Psychologie und Pädagogik unterrichtete. Parallel arbeitete sie an der Neuausgabe der Realenzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft mit, wozu sie binnen weniger Jahre fast 90 eigene Artikel beisteuerte.
Im November 1931 begann Annelise Modrze mit der Ausbildung zur wissenschaftlichen Bibliothekarin an der Universitätsbibliothek in Breslau sowie an der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin. Hier war sie in der Handschriftenabteilung so erfolgreich wissenschaftlich tätig, dass sich ihr gute Chancen auf eine Anschlussbeschäftigung in der Staatsbibliothek eröffneten. Doch wurde ihr bereits im August 1933 angekündigt, dass eine Übernahme in den Dienst der Staatsbibliothek unmöglich sei. Im September 1933 legte sie noch die Prüfung als Anwärterin für den höheren Bibliotheksdienst – mit Auszeichnung – ab, bevor sie nach Oxford emigrierte.
Zwar endete ihr Oxforder Arbeitsvertrag am Corpus Christi College erst im Frühjahr 1936, doch kehrte die zu diesem Zeitpunkt erkrankte Annelise Modrze im März 1935 nach Deutschland zurück. Annelise Modrze starb am 14. August 1938 mit nur 36 Jahren in Berlin eines natürlichen Todes, vermutlich an Tuberkulose. Ihrem Bruder Hans Joachim Modrze gelang 1933 die Emigration nach London, ihre Eltern wurden deportiert. Ihre Mutter starb im Januar 1943 in Theresienstadt; ihr Vater überlebte die Inhaftierung und starb 1951 in Karlsruhe.

HERMANN PICK, geboren am 15. Januar 1879 in Schildberg (heute: Ostrzeszów) in der preußischen Provinz Posen, studierte in Halberstadt und Berlin orientalische Sprachen, alte Geschichte und jüdische Theologie und promovierte 1904 über Talmudische Glossen zu Delitzschs Assyrischem Handwörterbuch.
Im Anschluss an die Ausbildung zum wissenschaftlichen Bibliothekar war Hermann Pick in der Berliner Königlichen Bibliothek, Vorgängerin der heutigen Staatsbibliothek, seit 1910 zunächst als Hilfsbibliothekar, seit 1914 als Bibliothekar tätig und widmete sich vorwiegend den Rabbinica.
Seit Mai 1915 leistete er Kriegsdienst. Im Juli 1919 verlieh ihm der Preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung das Prädikat ,Professor‘. Im Oktober 1923 wurde Pick auf eigenen Wunsch aus dem Staatsdienst entlassen, um sich in Jerusalem als Leiter des Einwanderungsdepartements der Zionistischen Exekutive zu betätigen.
Im März 1928 nahm Pick seine Tätigkeit in der Preußischen Staatsbibliothek wieder auf. Zum 1. Februar 1934 wurde der jüdische Deutsche Hermann Pick aus dem Dienst der Preußischen Staatsbibliothek entlassen. Er emigrierte mit Frau und Sohn nach Palästina und fand Anstellung in der Nationalbibliothek in Jerusalem. Hier verstarb Hermann Pick im Jahr 1952.

ARTHUR SPANIER, geboren am 17. November 1889 in Magdeburg als Sohn des jüdischen Religionslehrers Moritz Spanier und Helene Spanier studierte in Berlin Klassische Philologie und Hebräisch. Von 1915 bis 1918 nahm er am Ersten Weltkrieg teil. Anderthalb Jahre war Spanier als Lehramtsanwärter an einem Königsberger Gymnasium in der Neumark (heute: Chojna, Polen) und zugleich auch für die Akademie für die Wissenschaft des Judentums tätig.
In Freiburg wurde er 1921 über den Begriff des logos didaskalikos des Platonikers Albinus promoviert und begann an der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin die Ausbildung zum wissenschaftlichen Bibliothekar. Als Fachreferent in der Orientalischen Abteilung widmete er sich der Beschreibung der hebräischen und der armenischen Handschriften der Preußischen Staatsbibliothek. Im Zuge der ,Nürnberger Gesetze‘ wurde Spanier im Herbst 1935 zunächst beurlaubt, anschließend zwangspensioniert.
Bis ins Jahr 1938 unterrichtete er – ohne Alimentierung – an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Nach den Novemberpogromen 1938 wurde Arthur Spanier kurzzeitig in das Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert. Zwar erhielt er im Januar 1939 einen Ruf an das Hebrew Union College in Cincinnati, das amerikanische Konsulat erkannte Spanier jedoch nicht als Professor an und verweigerte ihm das für die USA benötigte Einreisevisum. Im Juni 1939 emigrierte Spanier nach Amsterdam. Die Ausstellung eines Visums für die USA scheiterte 1941 erneut. Nach dem deutschen Einmarsch wurde Arthur Spanier 1942 zunächst nach Westerbork, später nach Bergen-Belsen deportiert, wo er am 30. März 1945 starb.

Geboren am 11. Juli 1877 in Görlitz als Sohn des Kaufmanns Ignaz Wieruszowski, wurde KURT WIERUSZOWSKI als Kind evangelisch getauft. Ein neuphilologisches Studium, vorwiegend der Germanistik und Romanistik in Lausanne, Lyon, Leipzig und Bonn beendete er 1904 mit der Dissertation Untersuchungen über John Drydens Boccaccio-Paraphrasen sowie 1905 mit dem Staatsexamen. In Halle und Göttingen absolvierte er die Ausbildung für den wissenschaftlichen Bibliotheksdienst. Seit 1909 war er an der Berliner Universitätsbibliothek tätig. Er eignete sich die Kenntnis des Russischen und anderer slawischer Sprachen an und wurde mit der Erwerbung und Katalogisierung der Slawica betraut.
Im Ersten Weltkrieg wurde der Reserveoffizier Wieruszowski mit der Postzensur beauftragt, arbeitete als Dolmetscher sowie als Leiter einer Divisions-
presseabteilung.
1921 wechselte er an die Preußische Staatsbibliothek, wo er im Laufe der Jahre in vier Arbeitsgebieten wirksam wurde: als Fachmann für slawische Inkunabeln im Gesamtkatalog der Wiegendrucke, in der Sachkatalogauskunft, als Referent für neuere deutsche Literatur sowie Literatur in rumänischer und in slawischen Sprachen. Zum Jahresende 1935 wurde der jüdische Deutsche Kurt Wieruszowski auf der Grundlage der ,Nürnberger Gesetze‘ zwangspensioniert. Am 19. Oktober 1942 wurde er nach Riga verschleppt, wo sich seine Spur verliert.