DIE MATERIALITÄT VON SCHRIFTLICHKEIT - BIBLIOTHEK UND FORSCHUNG IM DIALOG
2015/2016
Forschung zur materiellen Kultur hat gegenwärtig Hochkonjunktur – gerade auch in den Philologien. Dieser Material turn geht einher mit der wissenschaftspolitischen Förderung von archivischen, musealen und bibliothekarischen Sammlungen als Forschungsinfrastrukturen. Vor diesem Hintergrund laden der Arbeitskreis Materialität der Literatur, eine Initiative von Angehörigen der Berliner Universitäten, sowie die Staatsbibliothek zu Berlin ein zum Dialog.
In einer mehrteiligen thematischen Vortragsreihe sollen theoriegeleitete Forschungsperspektiven auf schrifttragende Artefakte mit aus der Praxis entwickelten Fragestellungen konfrontiert werden, um im sparten- und disziplinenübergreifenden Austausch das Sensorium der Geistes- und Kulturwissenschaften für die Sprache(n) der Objekte weiter zu schärfen.
Der Arbeitskreis Materialität der Literatur situiert sich an den Schnittpunkten von Literaturwissenschaft einerseits und Buchwissenschaft, Analytischer Bibliographie, Typographiegeschichte, Materialitätsstudien und Artefaktanalyse andererseits. Die theoretische und systematische Beschäftigung mit den materiellen und medialen Grundlagen von Literatur soll dezidiert einer Erweiterung literaturwissenschaftlicher Möglichkeiten dienen: Im Zentrum stehen dabei sowohl die Theorie der textuellen Materialität und Dinghaftigkeit als auch die historische Beschäftigung mit den Trägermaterialien und Technologien, Schreibgeräten und Schreibstoffen, Formaten und Formen materieller Texte.
Wie der anhaltend große Publikumserfolg der ersten Folge von Vorträgen zur Materialität der Schriftlichkeit dokumentiert, hat das programmatische Leitkonzept der Reihe offenbar einen Nerv getroffen. Die Organisatoren der Reihe freuen sich daher, Sie zu einer Fortsetzung des Dialogs zwischen Bibliothek und Forschung einladen zu dürfen.
VERGANGENE VERANSTALTUNGSTERMINE
Alexander von Humboldts Amerikanische Reisetagebücher
Dr. Jutta Weber / Julia Bispinck-Roßbacher, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Dr. Tobias Kraft, Berlin Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
6. Oktober 2015
18.15 Uhr
Haus Unter den Linden
Konferenzraum 4
Die Amerikanischen Reisetagebücher sind das wichtigste materielle Zeugnis für Alexander von Humboldts berühmte Forschungsreise durch die amerikanischen Tropen von 1799 bis 1804. Zugleich bilden sie die Arbeitsgrundlage des von Humboldt in den Jahren 1805 bis 1838 publizierten, 29-bändigen Reisewerks Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent. Darüber hinaus wissen wir, dass die im Konvolut der Tagebücher enthaltenen Texte nicht nur bereits vor der eigentlichen Amerika-Reise ansetzen, sondern auch durchgehend bis kurz vor seinem Tod 1859 von Humboldt benutzt, verändert, beschrieben und ergänzt worden sind. Erst eine um die Erkenntnismöglichkeiten materialwissenschaftlicher Forschung erweiterte Lektüre ermöglicht, die vielschichtigen Dimensionen dieses lebenslangen Arbeits- und Schreibprozesses in den Tagebüchern nachvollziehen und angemessen deuten zu können. Der Vortrag wird exemplarisch einige Dimensionen dieser Arbeit am Material der Humboldt‘schen Texte ausleuchten und zukünftige Kooperationsvorhaben zwischen Literaturwissenschaft, Bibliothek und Materialforschung vorstellen.
»Sie redet Fraktur mit ihm.« Zur Editionsgeschichte und typographischen Gestaltung von Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz«
Dr. Bernhard Metz, Freie Universität Berlin
3. November 2015
18.15 Uhr
Haus Unter den Linden
Konferenzraum 4
Der vielleicht wichtigste Berlin-Roman des 20. Jahrhunderts, Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz, ist heute so bekannt und verbreitet wie nie zuvor. Freilich hat er Döblins andere Arbeiten weitgehend verdrängt und diesen in der öffentlichen Wahrnehmung zum Ein-Buch-Autor werden lassen, eine auch in Übersetzungen in andere Literaturen anzutreffende Verengung. Dabei ist auffällig, dass sein im Herbst 1929 erstmals bei S. Fischer in Berlin veröffentlichter und bis 1933 in vier Folgeauflagen in 50000 Exemplaren erschienener Roman in der ursprünglichen typographischen Einrichtung heute nahezu unbekannt ist und spätere Auflagen das Bewusstsein um dieses überzeugend durchgestaltete Gesamtkunstwerk verdecken konnten. Der Vortrag versucht, den Roman in der materialen Form, in der er bei Erscheinen gefeiert wurde und bis 1947 ausschließlich rezipierbar war, neu zu erschließen. Berlin Alexanderplatz dient dabei auch zur Illustration von Problemen, die sich ergeben, sobald ein aus gebrochenen Schriften gesetzter Text nach 1945 neu herausgebracht wird, sowie der Frage, wie mit typographischen Auffälligkeiten umgegangen wird, wenn sie in einem regulären und wenig markierten Rahmen auftauchen.
Kirchenslawische Typographie als Kunst und Waffe: Am Beispiel der ostslawischen Drucke des 15. bis 17. Jahrhunderts
Dr. Vladimir Neumann, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
1. Dezember 2015
18.15 Uhr
Haus Unter den Linden
Konferenzraum 4
Der Vortrag widmet sich verschiedenen Aspekten der kirchenslawischen Schriftlichkeit. Anhand ausgewählter Drucke aus drei Jahrhunderten aus dem ostslawischen Raum soll vor allem die Funktion der kirchenslawischen Schrift dargestellt werden. Dabei stehen nicht nur die Fragen des Ästhetischen im Vordergrund, die bei der Gestaltung der slawischen Drucke in spezifisch osteuropäischer Art und Weise zum Tragen kommen, sondern auch die der religiösen Polemik zwischen der Slavia Latina und der Slavia Orthodoxa, die mancherorts, wie beispielsweise in den Randgebieten der Rzeczpospolita, im 17. Jahrhundert den Charakter einer bewaffneten Auseinandersetzung angenommen hatte. Am Beispiel ausgewählter Werke von bekannten ostslawischen Druckern wie Francysk Skaryna, Ivan Fedorov, Jelysej Pleteneckyj und Simeon Polockij sowie einer Reihe von Drucken aus weniger bekannten Druckereien auf dem weißrussischen, ukrainischen und russischen Boden soll die Vielfalt und die Kontinuität des kirchenslawischen Drucks vom 15. bis zum 17. Jahrhundert skizziert werden.
Manuskript, Buch, Makulatur. Zur Materialität des Schreibens und Publizierens um 1800
Univ.-Prof. Dr. Cornelia Ortlieb / Tobias Fuchs, M.A., Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
5. Januar 2016
18.15 Uhr
Haus Unter den Linden
Konferenzraum 4
Der Vortrag stellt verschiedene Schreibformen von Kritik und Kommentar sowie die Nachahmung gedruckter Bücher am Beispiel der handschriftlich annotierten Bücher Friedrich Heinrich Jacobis und der frühen Exzerpthefte Jean Pauls vor – mit Blick auf die erhaltenen Bestände in der Staatsbibliothek zu Berlin. Besonders wird es dabei um die buchstäblich randständigen Praktiken des Anstreichens, Unterstreichens und Durchstreichens wie um das Abschreiben und Umschreiben gehen, somit um eben diejenigen Schreibakte, mit denen in der Moderne aus Büchern Bücher gemacht werden.
Kein Kinderspiel. Spiel- und Verwandlungsbilderbücher vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Carola Pohlmann, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
2. Februar 2016
18.15 Uhr
Haus Unter den Linden
Konferenzraum 4
Videomitschnitt
Der Vortrag beschreibt Entwicklungstendenzen von Spielbilderbüchern vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, analysiert die vielfältigen Bezüge zwischen Buch und Spiel, behandelt Übergangsformen vom Buch zum Spielobjekt und weist auf Besonderheiten in der Gestaltung und Produktion von Spiel- und Verwandlungsbilderbüchern hin.
Was ist gute Buchgestaltung?
Friedrich Forssman, Kassel
1. März 2016
18.15 Uhr
Haus Unter den Linden
Konferenzraum 4
Kriterien für gute Buchgestaltung sind: Angemessenheit (dafür gibt es eine hoch ausdifferenzierte Buch-Typologie), Leserlichkeit (was eher mit Überlieferung zu tun hat denn mit Physiologie) und Schönheit (spätestens da wird es komplizierter). Über diese Kriterien gibt es viel Konsens und immer wieder Debatten – Bücher sind einerseits Gebrauchsgegenstände, die funktionieren müssen, andererseits Objekte, die geliebt wurden, als sie noch handbeschriebene Rollen waren, und heute, längst zu Industrieprodukten geworden, immer noch geliebt werden können. Ein Buchgestalter berichtet aus seiner 25jährigen Arbeit für Verlage, Institutionen und Editionen.
Der frühe arabische Buchdruck in einer Welt der Handschriften: Eine kulturhistorische Annäherung
Christoph Rauch, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
5. April 2016
18.15 Uhr
Haus Unter den Linden
Konferenzraum 4
Christliche arabische Mönche bedienten schon im 17. Jahrhundert die Druckerpresse. Obwohl Ibrahim Müteferrika bereits ab 1729 in Konstantinopel wirkte, konnte sich der Buchdruck im islamischen Umfeld erst im 19. Jahrhundert durchsetzen. Worin liegen die Ursachen für das lange Festhalten an der handschriftlichen Überlieferung im islamischen Raum, und in welchem Kontext steht die Verbreitung gedruckter Bücher in der islamischen Wissenskultur? Am Beispiel zahlreicher handschriftlicher und gedruckter Exemplare eines sehr verbreiteten und häufig kommentierten Werkes, der arabischen Grammatik al-Kāfīya des Ibn Ḥāǧib (st. 647/1249), werden einige Merkmale der Textgestaltung und des Wissenstransfers sowohl im Zeitalter der Handschrift als auch des Buchdruckes veranschaulicht.
»Salvator. Goethe. Radio.« Ästhetik, Ideologie und Poetizität der deutschen Schriftmuster
Dr. Thomas Rahn, Freie Universität Berlin
3. Mai 2016
18.15 Uhr
Haus Unter den Linden
Konferenzraum 4
Der Vortrag widmet sich, mit Schwerpunkt auf dem Zeitraum zwischen 1870 und 1950, der Geschichte und Gestaltung einer wenig beachteten Gattung von Werbematerial: Die Schriftmusterhefte und Kataloge der Buchdruckereien und Schriftgießereien sind nicht allein als ästhetisch ambitionierte Leistungsschau des jeweils aktuellen Schriftdesigns interessant, sie lassen auch durch ihre Textauswahl die Strategie erkennen, einzelne Schriften jeweils mit einem bestimmten Programm zu versehen, sprich: mit konkreten semantischen Feldern zu verknüpfen. Gezeigt werden soll die funktionale und inszenatorische Bandbreite der Schriftmuster zwischen kalkulierter Ideologisierung (etwa ‚deutscher‘, ‚ökonomischer‘ oder ‚idyllischer‘ Schriften) einerseits und der quasipoetischen ‚typographie automatique‘ assoziativer (und manchmal ironischer) Wortkombinationen andererseits.
Kalligrafische Druckschriften Hermann Zapfs – von »Virtuosa« bis »Zapfino«
Dr. Nikolaus Weichselbaumer, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
7. Juni 2016
18.15 Uhr
Haus Unter den Linden
Konferenzraum 4
Hermann Zapf (1918-2015) war einer der einflussreichsten Kalligrafen, Buch- und Schriftgestalter des 20. Jahrhunderts. Sein Werk überspannt mehr als sieben Jahrzehnte, in denen er für alle Schrifttechnologien der Druckgeschichte gearbeitet hat – vom Bleisatz bis zur modernen Font-Datei. Eine zentrale Rolle in diesem Oeuvre nehmen kalligrafische Schriften ein, die für Gestalter durch ihre ausladenden und unregelmäßigen Formen eine besondere Herausforderung darstellen. Der Vortrag stellt Zapfs wichtigste kalligrafische Schriftentwürfe in die Traditionslinien der Typographiegeschichte und rekonstruiert auf Basis erhaltener Entwurfszeichnungen und ergänzender Quellen Zapfs Arbeitstechniken. Besondere Aufmerksamkeit liegt auf der Bedeutung von Technologie für die Formgebung von Schriften.
ENTWERTER/ODER und die Folgen: vom »Zeitschriftenunwesen« zur Buchkunst im DDR-Untergrund
Uwe Warnke, Uwe Warnke Verlag
5. Juli 2016
18.15 Uhr
Haus Unter den Linden
Konferenzraum 4
Videomitschnitt
Der Publikationswille des literarischen und künstlerischen Untergrunds (besser: der Zweiten Kultur) der 1980er Jahre in der DDR zeichnete sich durch eine große Vielfalt an Ausdrucksmitteln aus: Künstlerzeitschriften, original-grafische Editionen, Mappenwerke, Bücher. Die Künstlerzeitschriften waren das Experimentierfeld. Die Künstlerbücher folgten. Darüber spricht der Herausgeber des ENTWERTER/ODER.
KOOPERATIONSVERANSTALTUNGEN:
Shakespeare in der Staatsbibliothek: Ein Abend in drei Akten aus Anlass seines 400. Todestages (26.4.2016)
Kunst und Politik im Einblattdruck / Flugblatt (7.3.2016)
Sonderdruck. Wissenschaftliches Publizieren auf Papier im 21. Jahrhundert (11.2.2016)
Die Dissertation als Format akademischer Datenverarbeitung (24.11.2015)
Rechtshandschriften des deutschen Mittelalters (26.11.2015)
VERANSTALTUNGSORT
Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Haus Unter den Linden
Eingang: Dorotheenstraße 27
10117 Berlin (Mitte)
Treffpunkt: Eingangsbereich (Rotunde)
ANMELDUNG
Um Anmeldung wird gebeten (siehe Einzeltermine)
KONTAKT
Rainer Falk
Universität Potsdam – Theodor Fontane Archiv
E-Mail: Rainer Falk
Dr. Thomas Rahn
Freie Universität Berlin – Institut für Deutsche und Niederländische Philologie
E-Mail: Dr. Thomas Rahn
Dr. Carlos Spoerhase
Humboldt-Universität zu Berlin – Institut für deutsche Literatur
E-Mail: Dr. Carlos Spoerhase
Dr. Christian Mathieu
Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
E-Mail: Dr. Christian Mathieu