Kinder- und Jugendliteratur
Abschnitt 3: Berliner Ausgaben der Kinder- und Hausmärchen nach 1857
Von der Mitte des 19. Jahrhunderts an wurden die Kinder- und Hausmärchen zunehmend populärer, sie wurden gewissermaßen als „nationales Kulturerbe“ betrachtet. Das hatte zur Folge, dass einzelne Texte – oft unautorisiert – in Märchenausgaben anderer Herausgeber aufgenommen wurden. Nach dem Erlöschen der Urheberschutzfrist im Jahr 1893 setzte eine wahre Flut von Ausgaben der Kinder- und Hausmärchen ein. Die Berliner Drucke spiegeln die gesamte Bandbreite dieser Veröffentlichungen, von ambitionierten verlegerischen Projekten bis zu preiswert hergestellter Massenware. In der um 1900 bei Fischer & Franke in Berlin publizierten Reihe Jungbrunnen, deren Ziel es war, ein „Schatzbehalter deutscher Kunst und Dichtung“ zu sein, erschienen sieben im Jugendstil ausgestattete Märchenbände. Im Verlag Paul Cassirer wurde von 1918 bis 1926 die Reihe Das Märchenbuch herausgegeben, für die so bedeutende Künstler wie Max Slevogt und Leopold Graf von Kalckreuth Grimm’sche Märchen illustrierten. In den dreißiger Jahren erschienen in Berlin Ausgaben mit Illustrationen von Ruth Koser-Michaëls (Knaur, 1937) und Alfred Zacharias (Wiking, 1939).
Der erste Auswahlband mit Grimm’schen Märchen nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Berlin im Dezember 1945 im Altberliner Verlag Lucie Groszer veröffentlicht. Bereits 1946 begannen (zunächst in den westlichen Besatzungszonen, später auch im Ostteil Deutschlands) heftige Debatten um die angeblich verrohende Wirkung der Kinder- und Hausmärchen, in deren Lektüre sogar eine der Ursachen für die Gräueltaten im Nationalsozialismus gesucht wurde. Diese Diskussion ging unter dem Terminus „Märchenstreit“ in die Literaturgeschichte ein.
Die Folgen der Teilung Berlins und die unterschiedliche Entwicklung in den getrennten politischen Einflusssphären werden auch am Beispiel der Grimm-Ausgaben deutlich. Während sich Ostberlin als „Hauptstadt der DDR“ im Bereich des Kinderbuchs zum wichtigsten Verlagsstandort des Landes entwickelte, wanderten die meisten Westberliner Kinderbuchverlage Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre in andere Regionen der Bundesrepublik ab. Deshalb erschienen zwischen 1950 und 1990 Ausgaben der Kinder- und Hausmärchen fast ausschließlich im Ostteil der Stadt. Zu diesen Berliner Publikationen zählen so bekannte und verbreitete Drucke wie die von Lea Grundig illustrierte dreibändige Märchen-Edition (EA ab 1952) und die berühmte, bis heute nachgedruckte Ausgabe mit Illustrationen von Werner Klemke (EA 1962). Nach einem deutlichen Rückgang der Berliner Kinderbuchproduktion in der Nachwendezeit hat sich in den letzten Jahren die Zahl der in Berlin ansässigen Kinder- und Jugendbuchverlage wieder erhöht. Einige dieser Verlage, darunter Jacoby & Stuart, Aufbau und der Gestalten-Verlag, haben auch Einzel- und Teilausgaben Grimm’scher Märchen in ihre Programme aufgenommen. Mit dem von Klaus Ensikat illustrierten Band Grimms Märchen (Tulipan) wurde 2010 eine umfangreichere, anspruchsvoll ausgestattete Märchenausgabe in Berlin verlegt.