19./20. Jahrhundert
Die industrielle Revolution, um 1770 von Großbritannien ausgehend, erreichte um 1830 Deutschland und mündete in die Hochindustrialisierung Europas. Das 19. und 20. Jahrhundert wurden das Industrie- und Wissenschaftszeitalter schlechthin. Natur- und angewandte Wissenschaften wurden in ihrer stürmischen Entwicklung zu den Grundlagen der Gesellschaft. Die Wissenschaften differenzierten sich zunehmend, neue Disziplinen entstanden, an den Universitäten wurden neue Lehrstühle eingerichtet, auch technische Fächer erhielten Hochschulstatus. Durch die intensive Beschäftigung mit den wachsenden sozialen Fragen bildeten sich Sozialwissenschaften und Pädagogik heraus. Die Kameralwissenschaften entwickelten sich weiter und führten schließlich zur Spezialisierung der Wirtschaftswissenschaften und zur Entstehung der Nationalökonomie als deren wichtigster Teildisziplin.
Der mit dieser Entwicklung verbundene Anstieg der Publikationstätigkeit fand seine Entsprechung in der durch die Industrialisierung beschleunigten Buchproduktion. In Deutschland war Preußen Träger der beschriebenen industriellen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse. Der Bestand der Staatsbibliothek spiegelt diese Entwicklung wider. Er ist für das 19. und 20. Jahrhundert der bedeutendste Altbestand in einer deutschen Bibliothek. Dennoch sah sich die Bibliothek aufgrund der massenhaften Literaturproduktion zur Auswahl, verbunden mit einer entsprechenden Schwerpunktsetzung, gezwungen.
Wissenschaftshistorische Schwerpunkte
So war zum Beispiel die historische Literatur in der Staatsbibliothek zu Berlin von jeher besonders gut vertreten. Folgerichtig fanden die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zentralen politischen Ereignisse in Sondersammlungen ihren Niederschlag. Das gilt für die "Kriegssammlung 1870/71", die fast vollständig verloren ging, sowie die Sondersammlungen zum Ersten und Zweiten Weltkrieg. Die heutigen Erwerbungsanstrengungen richten sich besonders auf die Ergänzung dieses umfangreichen Quellenmaterials.
Neben den Bestandsgruppen Geschichte und Landeskunde wurden auch die Philologien intensiv gesammelt, sind jedoch ebenfalls von Verlusten gezeichnet. Das betrifft zum Beispiel die Romanistik, Anglistik und Slawistik sowie bei der Germanistik die sehr umfangreiche, auf den jüdischen Theaterwissenschaftler Max Hermann zurückgehende "Bibliothek deutscher Privat- und Manuskriptdrucke" mit Bühnenmanuskripten von Dramen des 19./20. Jahrhunderts. Auch die hochinteressante Sammlung von jüdischem und Emigrantenschrifttum muss nicht nur fast vollständig ersetzt werden, sondern bedarf auch der intensiven inhaltlichen Rückergänzung. Ebenso wird der bedeutende Bestand zur russischen Avantgarde-Literatur weiterhin besonders umfassend gesammelt.
Da sich die industrielle Revolution in Deutschland mit Verzögerung durchsetzte, ist für die Dokumentation der frühen industriellen Entwicklung die fremdsprachige technische Literatur mit besonderer Intensität zu sammeln. Das Bedürfnis nach rascher Informationsverbreitung fand zunehmend seinen Niederschlag in der Herausgabe einer Vielzahl technischer Fachzeitschriften. Zusammen mit der praktischen Handwerkerliteratur bilden sie heute herausragendes Quellenmaterial für die Industrie- und Technikgeschichte, den praktischen Denkmalschutz, die Restaurierung. Lücken- und Rückergänzung werden von der Staatsbibliothek in großem Umfang wahrgenommen.
In den Naturwissenschaften wurden im 19. Jahrhundert eine Vielzahl von Theorien aufgestellt und grundlegende Erkenntnisse gewonnen. Die Evolutionslehre Darwins, die Untersuchung der Vererbungsgesetze, die Bakteriologie und die Erfindung der Photographie sind nur einige Beispiele aus der Fülle der neuen Entwicklungen. In der Chemie und Physik bildeten theoretische Erkenntnisse die Voraussetzung für die Entwicklung von Technologien, auf deren Basis sich die chemische und die Elektroindustrie als neue Industriezweige etablierten. Um die Jahrhundertwende und im zwanzigsten Jahrhundert kamen wesentliche neue Erkenntnisse zum Beispiel durch die Untersuchungen zur Radioaktivität, die Begründung der Quantentheorie oder die Erarbeitung der Relativitätstheorie hinzu. Die Ergebnisse dieser Forschungen wurden vor allem in Akademieschriften und wissenschaftlichen Zeitschriften des In- und Auslandes veröffentlicht. Die Staatsbibliothek ergänzt und erweitert ihren Bestand auch auf diesen Gebieten und versucht, die besonders hohen Kriegsverluste bei Nachschlagewerken wie Bibliographien und Enzyklopädien sowie bei Werkausgaben berühmter Naturwissenschaftler zu ersetzen.
Sammlung Deutscher Drucke
Für den Erscheinungszeitraum 1871 - 1912 hat die Staatsbibliothek zu Berlin eine besondere Sammelverpflichtung. In Ergänzung der Deutschen Nationalbibliothek (Leipzig und Frankfurt am Main), verantwortlich für einen lückenlosen Bestand deutscher Publikationen ab 1913, wurde 1990 das Projekt "Sammlung Deutscher Drucke 1450 - 1912" (SDD) initiiert. Gemeinsam mit der Bayerischen Staatsbibliothek München, der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen und der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main beteiligt sich auch die Staatsbibliothek zu Berlin daran. Sie hat speziell die Aufgabe, dem Prinzip der Nationalbibliothek folgend, alle in den Jahren 1871 bis 1912 innerhalb und außerhalb des Buchhandels erschienenen Schriften in deutscher Sprache sowie die in dieser Zeit in den maßgebenden geographischen Grenzen des deutschen Sprachgebietes erschienenen fremdsprachigen Schriften in größtmöglicher Vollständigkeit zu sammeln. Der erweiterte Sammelauftrag der Staatsbibliothek für Karten (1701-1912) und Musikdrucke (1801-1945) wird von den jeweils zuständigen Sonderabteilungen erfüllt. Die zwischen 1871 und 1912 herausgegebenen Kinder- und Jugendbücher werden ebenfalls von der entsprechenden Sonderabteilung gesammelt.
Die im SDD-Zeitsegment der Staatsbibliothek zu Berlin erschienenen Drucke werden soweit möglich im Original erworben. Nur in Ausnahmefällen wird das betreffende Werk als technische Reproduktion in die Sammlung einbezogen. Zu den gedruckten Büchern zählen dabei auch Flugschriften, Auktions-, Ausstellungs- und Museumskataloge sowie Adressbücher, Schulschriften und Schulbücher. Nicht im SDD-Sammelauftrag für die Staatsbibliothek zu Berlin enthalten sind Plakate, Patentschriften, Theaterprogramme, Akzidenzdrucke, Hochschulschriften oder individuell angefertigte Bucheinbände einzelner Ausgaben.
Auch nach dem Auslaufen der Förderung des Projektes durch die Volkswagen-Stiftung setzt die Staatsbibliothek zu Berlin seit 1996 den intensiven Ankauf dieser Materialien fort. Besonderes Augenmerk legt sie dabei auch auf die Buchproduktion von Regionen, die bislang im Bestand unterrepräsentiert sind. So wurden in Berlin zum Beispiel Drucke aus Österreich-Ungarn oder Süddeutschland traditionell nie in so starkem Maße gesammelt wie solche aus Norddeutschland. Auch Publikationen aus den ehemals preußischen Gebieten im heutigen Polen, in der Russischen Föderation sowie deutschsprachige Bücher aus den baltischen Ländern müssen in größerem Umfang erworben werden, da nahezu alle Bibliotheken der Bundesrepublik Deutschland durch Kriegsverluste oder fehlenden Sammelauftrag kaum entsprechende Werke besitzen.
Besondere Schrifttumsgattungen
Neben den genannten inhaltlichen Gesichtspunkten sind für das 19./20. Jahrhundert auch einige formale Kategorien der Literaturproduktion wie Amtliche Publikationen und Bibliographien von besonderer Bedeutung für die Bestandserweiterung. Aber auch Adressbücher sowie die in vielen Bibliotheken als minderwichtiges Schrifttum angesehenen Firmenschriften, technische Praktikerliteratur, graue Literatur, Schulschriften und Trivialliteratur werden in historisch differenzierter Weise bei der Rückergänzung berücksichtigt. Der umfangreiche Altbestand an Verlegerreihen und Zeitschriften aus allen Wissensgebieten wird weiter ergänzt. Für die vorhandene beachtliche Sammlung von Künstlerischen Drucken werden in breiter Auswahl Drucke erworben. Sie bilden einen Gegenpol zur maschinellen Massenproduktion der Zeit und besitzen dadurch große buchgeschichtliche Bedeutung.