Musik

Der Nachlass von Klaus Fischer-Dieskau

In der Atmosphäre des konservativen Bürgertums mit hohen künstlerischen Ambitionen war es für Klaus Fischer-Dieskau selbstverständlich, die musikalischen Einflüsse des klassisch-romantischen Repertoires aufzunehmen und selber am Klavier auszuprobieren und schon frühzeitig den Willen zu äußern, Musiker zu werden. Der Vater, Albert Fischer (1934 dann Fischer-Dieskau) organisierte als Gründer und Schulleiter des ersten Zehlendorfer Gymnasiums regelmäßig Konzerte in der Schulaula mit prominenten Künstlern. Auf diese Weise stand Klaus und seinem jüngeren Bruder Dietrich die Welt der Künste früh offen. Der dritte Bruder Martin wurde gegen Ende des 2. Weltkrieges wegen einer Behinderung von den Nazis ermordet.

    Klaus Fischer-Dieskau wurde am 2. Januar 1921 in Berlin geboren und starb ebendort am 19. Dezember 1994. Mit seinem Namen verbinden wir zum einen den Hugo-Distler-Chor, dessen Leitung er bis 1989 innehatte, dann die Aufnahmeleitung bei der Grammophongesellschaft in Hannover sowie die Tätigkeit als Kantor an der Dreifaltigkeitsgemeinde in Berlin-Lankwitz. Vor allem aber ist es das kompositorische Schaffen von 110 Opera, das die Nachwelt interessieren könnte. Dieses Werk ist im Jahr 2020 der Staatsbibliothek zu Berlin übergeben worden.

    Im Werkverzeichnis von Klaus Fischer-Dieskau sind als die beiden ersten Werke 2 Notturnos für Klavier (Meiner Mutter gewidmet) op. 1 und als op. 2 Tänzerische Intermezzi für Klavier aufgeführt, beide 1935 geschrieben. Der 14-Jährige komponiert am Klavier fürs Klavier, erweitert sein kompositorisches Repertoire in den folgenden Jahren um Lieder mit Klavierbegleitung, Kammermusik in unterschiedlichen Besetzungen und etwas später um sein erstes großes Orchesterwerk op. 9 aus dem Jahr 1937. Er nennt es: 1. Deutsches Konzert für großes Orchester und Klavier d-Moll (Herrn Prof. Romuald Wikarski gewidmet) 1937-1943.

    Die Pläne, ein Studium an der „Staatlichen Akademischen Hochschule für Musik in Berlin“ als Pianist zu beginnen, fanden ein jähes Ende: Während der Komposition des 1. Klavierkonzertes brach der Zweite Weltkrieg aus und Fischer-Dieskau wurde eingezogen: 

    Kann man nun begreifen, wie fürchterlich für mich die Einberufung als Funker zur Luftwaffe diesem prallen Studentenleben ein gnadenloses Ende bereitete? (Chronik S. 8)

    Das „pralle Studentenleben“ ab 1938 war vor allem von seinen Lehrern Romuald Wikarski (Klavier) und Heinz Tiessen (Komposition) geprägt. Ihnen gelten, neben seiner Mutter, auch die ersten Widmungen. 

      Für Fischer-Dieskaus Auffassung von Musik und für seine innere Haltung gegenüber der „Wahrhaftigkeit künstlerischen Ausdrucks“ war Hugo Distler wegweisend als Lehrer und Mentor. In ihm verehrte er nicht nur den Erneuerer der protestantischen Kirchenmusik, sondern auch den sich bewusst aneignenden Zugriff auf die musikalische Tradition bis hin zu Heinrich Schütz.

      Er bedauerte Zeit seines Lebens, dass ihm für das Studium bei Distler nur eine kurze Zeit vergönnt war. Distler nahm sich im November 1942 das Leben, er verzagte angesichts der brutalen Übergriffe der Nationalsozialisten gegenüber freier künstlerischer Entfaltung. Nicht zuletzt deshalb setzte Fischer-Dieskau seinem Lehrer mit der Namensnennung des 1953 gegründeten Berliner Chores ein Denkmal.

      Während des Krieges hatte Fischer-Dieskau tatsächlich Zeit, ein ausführliches Tagebuch zu schreiben, das er nach dem Krieg mit großen Lücken bis zum 25. Juni 1994 fortsetzte. Aus vielen Bemerkungen geht hervor, dass er dem Regime gegenüber eine distanzierte Haltung an den Tag legte und mit kritischen Anmerkungen den Verlauf des Kriegsgeschehens verfolgte. Entscheidender Schreibimpuls jedoch war, die Überlebensstrategie als Soldat zu schildern und mit dem Abbruch seiner künstlerischen Laufbahn fertig zu werden. Amüsant sind seine Beschreibungen zum Einsatz als „Musiker“, wie er mit dem Akkordeon in Offizierskasinos für Unterhaltung zu sorgen hatte. Hinter seinen sarkastischen Beschreibungen trat die ganze Bitterkeit des frustrierten Pianisten und Komponisten zutage, von seiner eigentlichen Berufung abgeschnitten zu sein.

      Umso erstaunlicher ist es, dass er trotz der traumatischen Erfahrungen im Krieg eine Reihe von Kompositionen und seine Tagebücher hat retten können. In seinem Tagebuch schildert er 1946, dass er sein II. Klavierkonzert zwei Mal aus dem Gedächtnis neu schreiben musste; einmal wurde die Partitur im Kriegsgeschehen vernichtet, ein anderes Mal verlor ein Freund die Partitur.

      So brachte er die Kompositionen entweder während der Urlaubzeit oder am Ende des Krieges mit nach Hause, die Werke mit den Opuszahlen 7 bis 15 zum Beispiel. Darunter 13 Klassische Variationen nach einem eigenen Thema für Klavier 1940, Tänzerische Intermezzi für Orchester 1943-1944 und die kurz vor dem Krieg geschriebene und seiner damaligen Freundin gewidmete Sonate für 2 Klaviere in c-Moll op. 15. Die Schwierigkeiten, während des Krieges zu komponieren, zeigen sich in seiner Stellungnahme zum Leben als Soldat:

      In meinem Leben habe ich viele Zwangsgemeinschaften erlebt, erfahren, erlitten. Als Individualist füge ich mich oft schwer ein; am meisten dabei gelitten habe ich beim Militär, und die Gefahren des Krieges, der Abscheu davor und die Leiden der Unmenschlichkeit haben mein Gemeinschaftsgefühl – bei den Soldaten nennt man das „Kameradschaft“ – nicht befördert. (Chronik S. 3)

      Als ein noch nicht vollendetes Manuskript brachte er das 1946 fertiggestellte 1. Streichquartett d-Moll op. 16 aus dem Krieg mit.

      Das Albis Quartett hat dieses Streichquartett zusammen mit dem 4. Streichquartett in A op. 81 aus dem Jahre 1978 erstmals eingespielt. Die neun Streichquartette können als Haltepunkte seines kompositorischen Schaffens angesehen werden. Sie durchmessen alle Phasen seiner Entwicklung. Die Tonalität wird nicht aufgegeben, aber stark aufgelockert und bis zur Polytonalität weiterentwickelt. Gleichzeitig macht sich ein Streben nach linear-polyphoner Stimmführung bemerkbar.

      Nach dem Studium (1948) war ich zunächst einmal „arbeitslos“. Gar zu viele waren es damals. Immerhin hatte ich das Glück, auf vielerlei Weise freiberuflich tätig sein zu können. Ich spielte Orgel und Cembalo, synchronisierte Filme, übernahm Klavierbegleitungen und unterrichtete auch wieder. (Chronik S. 9)

        Mit der Gründung des Hugo-Distler-Chores verlagerte sich der Schwerpunkt künstlerischer Arbeit auf die Leitung des Chores und auf die spätere Tätigkeit als Kantor an der evangelischen Kirchengemeinde in Berlin-Lankwitz. Auf die Kompositionen Fischer-Dieskaus hatte die Verlagerung der beruflichen Tätigkeit einen starken Einfluss, so verstärkte sich dieser Aspekt kompositorischen Schaffens erheblich.

        Es entstanden die Motetten a cappella op. 48 für vierstimmigen Chor und das Oratorium Die Auferstehungsgeschichte op. 50. Einmalig in der Geschichte der evangelischen Kirchenmusik ist Fischer-Dieskaus op. 80, ein Choralbuch für Orgel mit Vorspielen und Sätzen zu sämtlichen Liedern des Evangelischen Kirchengesangbuchs.

        Die Mischung aus Kammermusik, Orchesterwerken und Vokalmusik hat Klaus Fischer-Dieskau bis ins Alter fortgesetzt. Zum Beispiel mit dem 9. Streichquartett sowie den Fünf Konzertstücken für Violine und Orchester op. 110, dem letzten Werk des Komponisten. Das Oratorium Sodom. Die Klagen der Frau Lot op. 98 für Mezzosopran, Bariton, Chor und Orchester reflektiert die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl von 1986.

        Bei vielen Werken war sich Fischer-Dieskau selbst der beste Kopist. Ob Klavierauszüge, Kopien seiner Partituren oder die Herstellung sämtlicher Stimmen eines Werkes, alles war akribisch handgeschrieben und offensichtlich für den öffentlichen Gebrauch gedacht.

          Vieles in der Musikgeschichte war zeitweilig nicht „aktuell“, da der Fokus auf anderen Strömungen lag. Mit Neugier und vorurteilsloser Erwartung sollte man der Musik Klaus Fischer-Dieskaus begegnen, denn sie vermittelt angesichts der unterschiedlichen stilistischen Entwicklungen heutzutage und der vielen in den letzten Jahrzehnten gemachten „Ausgrabungen“ einen hörenswerten Eindruck auf ein Werk in der Tradition der „gemäßigten Moderne“. 

          Fritz Tangermann

          • Klaus Fischer-Dieskau, Inge Rettig: „Hugo-Distler-Chor Berlin e.V. Die Geschichte der ersten 40 Jahre“. Chronik einer Gemeinschaft 1953-1993. (Selbstverlag)
          • Klaus Fischer-Dieskau: „Kleine Chronik. Tagebücher von 1921 bis 1994“ (Die Hefte werden zurzeit transkribiert und dann der Staatsbibliothek übergeben.)