Musik

Der Nachlass von Ruth Zechlin

Geboren 1926 in Großhartmannsdorf bei Freiberg wuchs Ruth Zechlin in der Bachstadt Leipzig auf und erhielt bereits mit fünf Jahren von ihrem Vater ersten Klavierunterricht. Ganz von der Musik Johann Sebastian Bachs umgeben, schrieb sie schon mit sieben Jahren ihre ersten Stücke. An ihrem Lebensende konnte Ruth Zechlin auf ein Œuvre von über 300 Kompositionen mit Beiträgen zu allen Gattungen der Instrumental- und Vokalmusik, einschließlich der Oper, zurückblicken. Ihr Nachlass (N.Mus.Nachl. 150) mit Kompositionen, Skizzen, Notizen zu fast allen ihrer Werke sowie Vorlesungsskripten umfasst 29 Kästen und wird seit 1997 im Tresorraum der Musikabteilung verwahrt.

Prägend war für sie nicht nur Bach, sondern auch das Studium bei Johann Nepomuk David (Tonsatz und Chordirigieren) in Leipzig ab 1943 und der Unterricht durch Karl Straube und Günter Ramin, bei denen sie seit 1946 Kirchenmusik und liturgisches Orgelspiel studierte. 1950 wurde sie Dozentin an der neu gegründeten Hochschule für Musik "Hanns Eisler" in Berlin und 1969 dort Professorin für Komposition.

1970 erfolgte ihre Ernennung zum Mitglied der Akademie der Künste der DDR, wo sie bis zu ihrer Emeritierung 1986 eine Meisterklasse für Komposition betreute. Komponierte Ruth Zechlin bis 1960 zwar freitonal, aber noch in traditionellen kontrapunktischen Musikformen, bezog sie in den 70er Jahren auch serielle Elemente, wie sie in der Musik des Avantgardisten Pierre Boulez zu finden sind, mit ein. Erst in den 80er Jahren emanzipierte sich die Komponistin mit ihrem unverwechselbaren Personalstil, einer Klangsinnlichkeit, die sich wie bei Bach aus polyphonen Satztechniken generierte. Zechlin nutzte hierbei eine "erweiterte" Polyphonie von Motiven, Klangfeldern, Klangfarben, Rhythmik, Dynamik, Raum und sogar Dramaturgie. In ihrem Umgang mit Klängen und Linien stand sie oft in einem Dialog mit Bach, indem sie seine Musik zitierte und in moderne Sprache fortsetzte, so etwa in "Musik für Bach" für Orchester (1985).
Es waren aber nicht nur prägende menschliche Begegnungen mit Zeitgenossen wie Krzysztof Penderecki, Hans Werner Henze und Witold Lutoslawski, die Zechlin zu ihrer Arbeit anregten. In ihren Werken ließ sie sich auch sehr von visuellen Reizen aus der Malerei beeinflussen.

Mit manchmal ausladenden graphischen Skizzen fixierte die Komponistin ihre ersten Ideen und Gefühle und schrieb sogenannte "Werktagebücher". Es handelte sich um eine sehr persönliche Form von Tagebüchern, in denen sie manchmal fast jeden Tag Gedanken zu einem geplanten Werk und verschiedene Erlebnisse notierte. Diese Skizzen und Werktagebücher gehören zu den eindrucksvollsten Artefakten des Nachlasses. Das oftmals bunte Material dokumentiert das Ringen der Komponistin um Klangfarbe. Die Atmosphäre von Farbtönen wird bestimmten psychischen Erfahrungszuständen zugeordnet. Zudem erkennt man bereits in den Skizzen schlüssig erscheinende Proportionen - oft dem "goldenen Schnitt" in der Malerei und Architektur vergleichbar.

Zusammen mit dem Dramatiker Heiner Müller wurde sie von 1990 bis 1993 Vizepräsidentin der Ost-Berliner Akademie der Künste und arbeitete mit ihm zusammen an experimentellen theatralischen Formen. Auf der Grundlage von Müllers Text komponierte sie 1991 "Hamletmaschine", eine szenische Kammermusik, wobei die Kammermusiker die Rollen von Schauspielern übernehmen, indem sie sich akustisch im Raum bewegen. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit mit Heiner Müller entstand ein Jahr später auch die Oper "Die Reise". In den 90er Jahren arbeitete sie auch mit westdeutschen Publizisten wie Walter Jens oder Kirchenmusikern wie Werner Jacob (Nürnberg) zusammen. 1991 war die sächsische Protestantin Zechlin zusammen mit Tochter und Enkelsohn nach Bayern gezogen und anschließend zum Katholizismus konvertiert. In ihren letzten Lebensjahren bis zu ihrem Tod am 4. August 2007 schuf sie vor allem geistliche Musik für Chor und Orgel.