Handschriften und Historische Drucke
Inkunabelneuerwerbungen 2021
Die SBB konnte ihrer Inkunabelsammlung sechs Drucke hinzufügen, darunter mehrere sehr seltene Ausgaben. Dazu zählt der am 10. Februar 1488/89 von Jean Du Pré in Lyon publizierte Computus cum commento des Anianus (GW 1952), von dem weltweit nur ein weiteres Exemplar in einer öffentlichen Bibliothek erhalten ist. Bei dem im Mittelalter ungemein populären illustrierten Werk handelt es sich um ein praktisches Medium zur Ermittlung von Kalenderdaten und ein Instrument zum Gedächtnistraining.
Weiterhin wurde ein von Hermann Bungart in Köln 1498 gedrucktes Plenarium erworben (GW M34266); wie beim Computus existiert auch hier nur noch ein weiteres Exemplar. Plenarien sind volkssprachige Sammlungen der Perikopen, also jener Ausschnitte der Bibel, die für die gottesdienstliche Lesung verwendet wurden, angereichert mit kurzen Auslegungen (‚Glossen‘). Die Bedeutung des reich mit Holzschnitten illustrierten Drucks liegt darin, dass er im niederrheinischen (ripuarischen) Dialekt abgefasst ist: Außer Bungarts Druck ist nur eine weitere, ebenfalls in Köln erschienene Ausgabe in dieser Regionalsprache bekannt.
Eine Rarität stellt auch die am 3. November 1478 in Mailand erschienene Ausgabe einer italienischen Sammlung von Fastenpredigten (Sermones quadragesimales) aus der Feder des Franziskaners Roberto Caracciolo dar (GW 6090). Unter den acht bekannten Exemplaren ist dieses das erste in einer deutschen Sammlung. Im Gegensatz zu seinen berühmten Zeitgenossen Johannes Kapistran und Bernhardin von Siena ist Roberto heute fast völlig vergessen, zu Lebzeiten war er aber eine Art Superstar der Kanzel: Über 70 Druckausgaben seiner diversen Predigtzyklen sind allein aus dem 15. Jahrhundert bekannt.
Dank einer großzügigen privaten Stiftung Seite konnte ein seltener Ulmer Druck erworben werden: das Officium de compassione Mariae (GW M27636), eine Zusammenstellung liturgischer Texte zur Verehrung der Muttergottes, ein typisches Produkt der Ulmer Pressen der Inkunabelzeit.
Der 19. Januar 2021 schließlich kann als „Tag der kuriosen Erwerbungen“ gelten: Bei Katalogisierungsarbeiten durch die Abteilung Historische Drucke wurde zunächst in einer französischen Mathematikgeschichte von 1798/99 eine einzelne Lage eines astronomischen Werkes aus dem Jahr 1490 gefunden, die ausschließlich Tabellen enthält (GW M37533). Noch am selben Tag erwarb die SBB das Fragment eines von König Maximilian I. im Mai 1499 in Augsburg publizierten polemischen Mandats gegen den König von Frankreich (GW M22054). Bei genauerer Betrachtung stellte sich heraus, dass dieses Bruchstück, das linke obere Viertel eines großen Einblattdrucks, zu dem bis dahin einzigen bekannten Teil dieses Mandats in der British Library passt, und zwar im wörtlichen Sinn: Wie die Schnittkanten zeigen, müssen das Berliner und das Londoner Fragment ursprünglich zu ein- und demselben Exemplar gehört haben. Eine virtuelle Rekonstruktion dieses „geteilten Kulturerbes“ kann man unter https://twitter.com/saskia_limbach/status/1352594593838211073 betrachten.