Musik
Digitale Abbildungen
Vgl. hierzu auch die Übersicht: Die einzelnen Bestandteile (Signaturen) der Originalhandschrift.
Die Originalhandschrift von Beethovens Neunter Sinfonie, die sich heute nahezu vollständig im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz befindet, ist nicht als einheitliches, in sich geschlossenes Manuskript überliefert. Das Hauptkorpus kam 1846 mit der Beethoven-Sammlung Anton Schindlers (1795-1864), Adlatus und Biograph des Komponisten, in die damalige Königliche Bibliothek zu Berlin.
Die Partitur aus Schindlers Besitz enthält den ersten, zweiten und dritten Satz der Sinfonie, jedoch nur ein Fragment des Finales. Hierbei handelt es sich um einen Abschnitt aus der Mitte des Satzes, das Allegro assai vivace. Alla Marcia.Danach bricht das Manuskript ab. Ein Vermerk von der Hand Schindlers verweist auf den Teil, der hier folgen müsste: "Segue / Andante / maestoso" ; das ist die von den Männerstimmen intonierte Strophe "Seid umschlungen, Millionen...".
In der Bibliothek erhielt die Partitur die Signatur Mus.ms.autogr. Beethoven, L. v. 2, die sie der Reihe der eigenhändigen Musikmanuskripte des Komponisten zuordnete. Unter der Nummer 1 wurde hier das Kyrie aus der Missa solemnis eingestellt, das bereits 1842 in die Bibliothek gelangt war. In späterer Zeit wurde die 137 Blätter umfassende Partitur mit einer Bleistift-Foliierung versehen, die nominal allerdings nur bis 136 läuft: das auf 17 folgende Blatt wurde anfangs aus Versehen überschlagen und nachträglich als 17a bezeichnet.
Die in autogr. 2 fehlenden Teile des Finalsatzes waren bei der Versteigerung von Beethovens musikalischem Nachlass im November 1827 an den Wiener Musikverleger Domenico Artaria gegangen und gelangten mit der bedeutenden Sammlung der Familie Artaria 1901 in die Berliner Bibliothek.
In ihren Bibliotheks-Signaturen erhielten die aus der Artaria-Sammlung stammenden Stücke einen Zusatz, der auf ihre Provenienz verweist; für den numerischen Teil der Signatur griff man auf die Zählung eines 1893 im Druck erschienenen Katalogs der Sammlung zurück. Die neu erworbenen Manuskriptteile zum Finale der 9. Sinfonie - sechs ungebundene Faszikel unterschiedlichen Umfangs - wurden so unter der Signatur Mus.ms.autogr. Beethoven, L. v., Artaria 204 zusammengefasst.
Das Finale setzt sich aus den einzelnen Partitur-Teilen wie folgt zusammen:
Artaria 204 (1) - (2)
autogr. 2, Bl. 116-136
Artaria 204 (3a) - (3b) - (4).
Für die Partiturniederschrift derjenigen Abschnitte des Finales, in denen zu Orchester und Chor das Quartett der Gesangssolisten hinzutritt, benötigte Beethoven mehr als die 16 Notenzeilen der sonst im Autograph anzutreffenden Papiere; auf den 23 Notensystemen der Blätter von Artaria 204 (2) und (4) ließ sich die größere Besetzung bequem unterbringen. Offensichtlich konnte Beethoven hier auf Restbestände jener Papiersorte zurückgreifen, die für die 1823 auf Bestellung angefertigten und europaweit verkauften Abschriften der Missa solemnis benutzt worden war.
Die Artaria 204-Faszikel (1) - (4) wurden mit einer durchlaufenden Seitenzählung versehen (1-133), wobei die Paginierung jeweils nur auf den Recto-Seiten erscheint.
Vervollständigt wird die Originalhandschrift durch einige in Berlin und an anderen Orten aufbewahrte Blätter und kleine Faszikel:
1. Der sechste der Artaria-Faszikel, Artaria 204 (5), stellt eine autographe Vorlage für den Kopisten zum Ausschreiben der Stimme des Kontrafagotts dar. Beethoven setzt das Instrument nur im letzten Satz ein (Überschrift "beym Finale der Sinfonie erst Contrafag."); es dient der Klangverstärkung in der tiefen Bassregion, wobei es zumeist mit dem zweiten Fagott in der unteren Oktave, gelegentlich auch mit dem Kontrabass, zusammenläuft. Beethoven geht den Satz abschnittsweise durch und vermerkt, wo er nicht den Notentext direkt vorgibt, für den Kopisten die Koppelung an die jeweilige "Primärstimme", beispielsweise "etc c.[ol] Fag. 2do geht so mit bis ..." (S.1, Zeile 2-3) oder "etc. c.[oi] B[assi]" (Zeile 6). Für die tacet-Stellen, an denen das Kontrafagott aussetzt, notiert Beethoven die Anzahl der Pausentakte. In der autographen Partitur hat Beethoven den Part des Kontrafagotts nur gelegentlich verankert (autogr. 2, Bl. 116r, Zeile 4; Artaria 204 (4), S. 116, Zeilen 7 und 16), und zwar nachträglich. Die Entscheidung für die Verwendung des Instruments ist also relativ spät gefallen.
2. Das Doppelblatt Artaria 204 (6)diente ursprünglich als Einlage zur Partitur des ersten Satzes der Sinfonie: Beethoven schrieb auf (der heutigen) S. 3 die vier nachträglich komponierten Takte 255-258 nieder, die nach dem ersten Takt von autogr. 2, Bl. 24v, einzuschieben waren.
Die Anschlüsse erscheinen durch spezielle Verweisungszeichen markiert, wie Beethoven sie bei derlei Gelegenheiten anzuwenden pflegte: durchgestrichene Kreise, die hier mit Rötel noch einmal hervorgehoben wurden, oder die beiden Silben des Wortes Vide (Vi= =de). Später benutzte Beethoven das Doppelblatt als Notizzettel und brachte unzählige Bemerkungen zu Korrekturarbeiten an Missa solemnis und 9. Sinfonie zu Papier.
Es bleibt unklar, wann das Doppelblatt von der Bibliothek erworben und aus welchem Grund es dem Konvolut mit den Finaleteilen aus der 9. Sinfonie zugeschlagen wurde. Mit Sicherheit gehörte es niemals der Artaria-Sammlung an. Vielmehr stammt es aus dem Besitz Anton Schindlers, der es, wie aus einem Vermerk auf S. 4 hervorgeht, am 22. Februar 1841 in Paris dem Komponisten Johann Georg Kastner (1810-1867) übergab.
3. Bereits im September 1827 hatte Schindler zwei Blätter aus dem Autograph der Sinfonie, die die nachkomponierte Coda zum zweiten Satz enthalten, nach London an den Komponisten und Pianisten Ignaz Moscheles (1794-1870) geschickt. Sie werden heute im Bonner Beethoven-Haus im Bestand der Sammlung H.C.Bodmer unter den Signaturen Mh 2 und BMh 5 aufbewahrt. In der Partitur bildeten die beiden zwölfzeiligen Blätter den Abschluss der Blattfolge für den zweiten Satz, sie folgten auf Bl. 91v. Im realen, klingenden Verlauf des Satzes allerdings muß von hier aus zunächst der Scherzo-Hauptteil wiederholt werden. Die Coda kommt erst ins Spiel, nachdem im Da capo der Fermaten-Takt 395 erreicht worden ist (Bl. 78v). Nach diesem hat Beethoven die Anweisung für die Verknüpfung eingefügt: "l'ultima / volta si / prende / dopo questa / Ferma / subito la coda". Ursprünglich hatte der Satz, ohne Coda mit Trio-Zitat, mit Takt 414 (Bl. 80, Takt 5) im Da capo schließen sollen.
Das Fehlen der beiden Coda-Blätter in autogr. 2 vermerkt eine Notiz auf dem Vorsatzblatt von der Hand Albert Kopfermanns (1846-1914), von 1878 bis zu seinem Tode Direktor der Musikabteilung an der Berliner Königlichen Bibliothek.
4. Vermutlich bei einem seiner Paris-Besuche Anfang der 1840er Jahre gab Anton Schindler drei weitere Blätter aus dem Autograph der Sinfonie weg. Der Empfänger ist unbekannt; es findet sich lediglich eine (undatierte) Echtheitsbestätigung von Schindlers Hand in französischer Sprache. Die Blätter befinden sich heute in der Bibliothèque Nationale de France in Paris (Signatur Beeth. Ms.43). Wieder handelt es sich um eine Einlage zum Autograph, dieses Mal mit den nachkomponierten Takten 343-375 des Finalsatzes. Sie stellen eine Erweiterung der instrumentalen Einleitung zum Allegro assai vivace dar und sind an der auf Bl. 116v gestrichenen Stelle einzufügen.
5. Schließlich sind noch die von Beethoven als Ergänzung zur Partitur geschriebenen Posaunenstimmen zu erwähnen, die das Beethoven-Haus Bonn (Sammlung H.C.Bodmer, Mh 28) besitzt. Der Einsatz der Posaunen beschränkt sich in der Sinfonie auf das Trio (Presto) des zweiten Satzes und die zweite Hälfte des Finales (ab Takt 595 Andante maestoso: "Seid umschlungen, Millionen!") In die Partitur des zweiten Satzes hat Beethoven nur die Bassposaune einbezogen (Bl. 80r, Zeile 14: "Basso trombone"; dann wieder Bl. 86r-91r, jeweils Zeile 13). Im Finale sind zunächst (Takt 595-649: Artaria 204 (3a), S. 67-76) alle drei Posaunen berücksichtigt; danach findet sich von ihnen keine Spur mehr. Auf den vier Blättern von Mh 28 hat Beethoven die fehlenden Partien nachgeliefert: Alt- und Tenorposaune für Satz II sowie die drei Posaunen für den Rest des Finales.
Im Hinblick auf den überlieferten Text der 9. Sinfonie weist das Autograph im Finale an zwei Stellen immer noch Lücken auf. Die hier fehlenden Blätter sind weder in die Berliner Bibliothek gelangt noch an einem anderen Ort nachzuweisen. Sie müssen als verschollen angesehen werden.
a) Das einstmals auf Artaria 204 (3a), S. 76, folgende Blatt: Es enthielt die Schlusstakte des Adagio ma non troppo ma divoto (Takte 650-654) mit der Pianissimo-Fassung des Chorverses "über Sternen muß er wohnen" unmittelbar vor Beginn der Doppelfuge. Dieses verlorene Blatt war kein nachträglicher Einschub; es gehörte zum genuinen Bestand des Autographs.
b) Ein eingelegtes Blatt mit den acht nachkomponierten, am Beginn von Artaria 204 (4), S. 110, einzuschiebenden Takten 814-821 (Rotstiftzeichen Beethovens in der 5. Zeile von unten), das wohl auch die Neufassung der ersten drei Takte der Seite (Takte 822-824) enthalten hat.
Eine mit "Sch." signierte Bleistiftmarginalie auf S.110, datiert "25/I. 10.", bezieht sich auf diese Stelle. Der Verfasser ist Max Schneider (1875-1967), nachmals Ordinarius für Musikwissenschaft an der Universität in Halle (Saale) und einer der bedeutenden Vertreter seines Faches, der von 1909 bis 1914 als wissenschaftlicher Assistent an der Musikabteilung der Königlichen Bibliothek tätig war. Von seiner Hand stammen weitere Achtungszeichen ("Nb") an hier bereits erwähnten kritischen Stellen des Autographs: autogr. 2, Bl. 116v (oberer Rand), Artaria 204 (3a), S. 76 (rechts unten), desgleichen ein Hinweis, der sich auf Bl. 66v von autogr. 2 findet.
Beethoven begann die Niederschrift der Partitur der 9. Sinfonie Ende 1822/Anfang 1823. Wie bei jedem größeren Werk wurde der Vorgang durch ausgiebige Arbeit in den Skizzenbüchern vorbereitet und begleitet. Zuweilen reicht die Skizzenarbeit bis in die Partitur hinein, in Gestalt zumeist von Bleistiftnotierungen auf den unteren Systemen einer Seite (z. B. autogr. 2, Bl. 48r-v). Weitere augenfällige Spuren des Kompositionsprozesses sind die zahlreichen Streichungen, Rasuren, Überschreibungen und Ergänzungen im Notentext, die sich in der Durchführung und nach dem Reprisenbeginn des ersten Satzes besonders stark häufen. Hinzu kommen der Austausch oder das Einfügen von Blättern; leere Seiten oder größere unbeschriebene Flächen im laufenden Text sind in der Regel untrügliche Indikatoren für solche Interpolationen. So hat Beethoven, um die vier Takte 268-271 in einem bereits niedergeschriebenen Abschnitt des zweiten Satzes einzuschalten (Bl. 69r), das zum größeren Teil leer gebliebene Doppelblatt Bl. 67-68 eingelegt.
In Vorbereitung der Uraufführung der 9.Sinfonie im Mai 1824 wurde von der Originalpartitur eine Abschrift hergestellt, aus welcher wiederum das Stimmenmaterial für die Aufführung kopiert werden konnte. Die von Beethoven mehrfach korrigierte und revidierte Partiturabschrift gab dann auch die Vorlage ab für eine weitere Abschrift, die im Dezember 1824 an die Philharmonic Society nach London geschickt wurde; schließlich fungierte sie auch als Stichvorlage für die Originalausgabe des Werkes, die im August 1826 bei B. Schotts Söhnen in Mainz erschien.
Im Vergleich mit anderen Autographen fällt die übergroße Zahl an Eintragungen mit Rötel auf, die Beethoven in der Partitur der Neunten vorgenommen hat. Sie zeichnen überwiegend bereits vorhandene dynamische Vorschriften nach und dienten insoweit sicher aufführungspraktischen Zwecken. Einige Eintragungen mögen bei der Überprüfung der Abschriften eine Rolle gespielt haben: Der Randvermerk "london" Bl. 102v etwa erinnert ohne Frage an die für die Philharmonic Society bestimmte Partiturabschrift. Außerdem benutzte Beethoven den Rötel auch, um den Kopisten bei Streichungen, Einfügungen und daraus resultierenden neuen Taktverknüpfungen die Orientierung zu erleichtern (Beispiel: Bl. 57r-60r aus dem 2. Satz).
An die Kopisten sind zudem verschiedene Anweisungen gerichtet, in denen Beethoven seine Absichten deutlicher darstellen wollte (z. B. Bl. 54v, unten, zur genauen Stellung der crescendo-decrescendo-Gabeln). Zwei Hinweise auf S. 45 in Artaria 204 (1) signalisieren den Schreibern, dass für den folgenden Abschnitt Papier mit einer größeren Zahl an Notensystemen heranzuziehen ist. Im zweiten Satz verlagert Beethoven die aufwändige Ausführung einer kompositorischen Änderung in die Abschrift: die Überführung des Presto mit dem Trio vom ursprünglichen 2/4- in den Alla-breve-Takt.
Die Anpassung der Übergangstakte wurde von ihm selbst noch vorgenommen (Bl. 80r, Takte 3-5: Entfernung der überzähligen Taktstriche und der alten Taktsignatur durch Rasur, neue Taktangabe), dann folgt im unteren Seitenbereich die Anweisung an die Kopisten für das Trio: "wird durchaus in Takt / geschrieb[e]n ..." Korrespondierend dazu setzt als Hilfestellung über dem ersten System eine fortlaufende Zählung für die neuen, doppelt so großen Takte von Beethovens Hand ein.
Zu einer besonderen, physischen Form des Zusammenspiels zwischen Autograph und Abschrift kommt es an einer Stelle aus dem Allegro assai vivace des letzten Satzes. Bei einer der zahlreichen Revisionen der Abschrift überklebt Beethoven die fünf unteren Systeme beider Seiten des Blattes, das die Takte 417-426 enthält, durch Papierstreifen mit einer Neufassung für die Stimmen von Solo-Tenor, Männerchor und Streicherbässen. Dieses revidierte Blatt lässt er in der Partiturabschrift durch eine neu angefertigte Kopie ersetzen und legt es dann in das Autograph ein (Bl. 121), nachdem er hier die entsprechenden Takte gestrichen hat (Bl. 120r, 120v , 122r). (Nebenbei hatte er am Rande von Bl. 121v noch seinem Unmut über den Kopisten mit dem Rüffel "Erz Esel" Luft gemacht.)
Nicht alle späteren Änderungen haben ihren Weg zurück in die autographe Partitur gefunden. Sie vermag daher nicht in allen Einzelheiten Auskunft über die von Beethoven gewünschte endgültige Gestalt des Werkes zu geben. Diese kann nur unter Einbeziehung aller authentischen Quellen aus einer kritischen Zusammenschau der durch sie überlieferten Versionen und Varianten erschlossen werden.